(12) weshalb fällt mir das essen schwer?

 

Es ist wieder einmal Zeit, mit mir zu reisen. Zurück, in mein fünfzehntes Lebensjahr und auf den Schulhof. Der Wind weht mir die Haare ins Gesicht, während ich starr zu Boden blicke. Fest beiße ich die Zähne aufeinander, fixiere diesen einen kleinen, in der Sonne glitzernden Stein und frage ihn in Gedanken: „Warum tun sie mir das an?“

 

„Guck dir die Hässliche mal an. Dumm und fett“. Gelächter dringt an meine Ohren.

„Ja. Die Tussi kann gar nichts, außer dumm gucken“.

„Die will doch eh niemand! Guck sie dir doch an“, sagt eine belustigte Stimme.

„Wäh, fass´ die bloß nicht an!“, warnt ein Mädchen einen Typen, dessen Sneaker neben dem Stein auftauchen. Doch er tut es und schuppst mich hart gegen die Wand hinter mir. Schmerz klettert mein Rückgrat hinauf, während ich als Nächstes von ihm bespuckt werde.

„Hässliches Stück“, sagt er und macht einen Schritt von mir weg. Dann geht er und auch die anderen gehen mit ihm. Sie lassen mich endlich in Ruhe. Innerlich taub und äußerlich verletzt, blieb ich stehen. Sah den Stein weiter an und schwor mir: Ich werde aufhören zu essen. Und wenn ich dann irgendwann endlich dünn genug bin, wird mir keiner mehr wehtun können! Dieser Gedanke war in der Situation für mich der tröstlichste. Aber meine Entscheidung war die Schlimmste.

 

 

Warum war meine Entscheidung die Schlimmste?

 

Erinnerst du dich an meinen Beitrag „(6) Wieso bin ich nicht hübsch?“ und den Abschnitt „Wieso sagen sie, dass ich hässlich und dick bin?“.  Dort erzählte ich dir von den Dingen, die ich mir über mein Aussehen so wie in der oben beschriebenen Situation auf dem Schulhof, habe anhören müssen. Ich habe mir solche Worte fast 20 Jahre anhören müssen. Und genau diese Worte und die obige Situation, brachten mich zu meinem Entschluss, so wenig wie möglich oder gar nichts mehr zu essen. Sie brachten mich zu der Überzeugung, dass mein Körper ein Fehler ist, den ich ausbessern muss. In meinem Beitrag „(2) Warum fühlt mein Körper sich wie ein Fehler an?“ erzählte ich dir, dass ich mit all dem Mobbing, falschen Freunden oder falschen Partnern, vermittelt bekam: Gefalle immer den anderen aber nie dir selbst.

 

 

Wie du weißt, hatte ich damals kein Selbstwertgefühl. Ich dachte damals von mir, nicht wertvoll zu sein. Nicht hübsch genug und nicht dünn genug zu sein. Ich wusste, damit das alles endlich aufhörte, muss ich mich zu Gunsten der anderen verändern. Aber das war falsch! Das war eine Lüge, eine erfundene Lösung, die mir in dieser Situation aber genau recht kam. Ich begann Stück für Stück weniger zu essen. Verbot mir Süßes. Aß nur, was wenig oder am besten keine Kalorien hatte, was fast unmöglich war. Irgendwann hungerte ich schließlich tagsüber in der Schule und nachts in meinem Bett. Das zog sich über lange Zeit so hinaus. Ich nahm zwar ab, aber das Mobbing endete trotzdem nicht. Ich tat gut daran, noch weniger zu essen und tat noch mehr daran, mich schlecht zu fühlen. Jedes Mal, wenn ich am Esstisch saß, sah ich das Essen auf dem Teller an und erinnerte mich an all die schlimmen Worte. An das Schubsen. An das Gelächter. An den doofen, glitzernden Stein und an die Taubheit in mir. Essen wurde für mich zum Kampf. Eine Qual. Meine erfundene, situationsbedingte Lösung ging nicht auf. Denn der Körper sagt dir immer: „iss!“. Aber dein Kopf sagt dir: „Essen tut dir weh“. Es war die schlimmste Qual, die ich mir mit fünfzehn Jahren freiwillig antat. Weil ich glaubte, mein Äußeres wäre falsch.

 

Als ich dreiundzwanzig Jahre alt war, kehrte das Essproblem zurück. Diesmal war der Auslöser kein Mobbing, sondern meine erlernten Gedanken im Alter von fünfzehn. In der Zeit von fünfzehn bis dreiundzwanzig Jahren schlich das Essproblem immer neben mir her. Es war stiller geworden als damals. Aber es war verdammt nochmal immer da. Es zeigte sich immer Mal wieder hier- und da in Abständen. Aber mit dreiundzwanzig vereinnahmte es mich erneut. Mein Selbstwert war über zu viele Jahre hinweg bespuckt worden. Und so knallte ich mit dem Rücken schon wieder gegen die Essensmauer.

 

Wie habe ich es geschafft, mich dem Essen wieder zu nähern?

 

Die Antwort, ausgedrückt in Worten, ist recht einfach. Durch langsame Selbstakzeptanz und Selbstannahme. Aber in der Anwendung und Umsetzung, fällt es mir selbst heute manchmal sogar noch schwer, mich ohne den Gedanken „essen tut weh“ an den Esstisch zu setzen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass meine Vergangenheit für mich nicht einschneidend und von mir eben manches viel zu gut verinnerlicht war, als das diese Gedanken sich nicht immer leise zu Wort melden würden.

 

Noch immer bin ich mit dem Rücken gegen die Essensmauer gelehnt. Aber die Mauer fühlt sich nicht mehr so schmerzhaft an. Ich bin mir in den letzten drei Jahren ein unglaubliches Stück näher gekommen. Und es ist gar nicht so lange her, da erzählte ich dir im Beitrag „(6) Wieso bin ich nicht hübsch?“ im Abschnitt „Warum sagt er/sie, dass ich hübsch, klug und attraktiv bin?“, wie ich endlich die Wahrheit über mich und mein Aussehen sah. Wie ich mir ein riesen Stück näher kam.

 

Heute bin ich 31 Jahre alt. Das Essproblem kehrte mit 23 zurück. Acht Jahre habe ich gekämpft. Nun stehe ich hier. Die Mauer im Rücken. Aber ich sehe hinauf zu glitzernden Sonne und lächle. Denn es zählt im Leben nicht, wer versucht, dich gegen die Mauer seiner Meinung zu schmettern. Es zählt allein das, was in die selbst schlägt. Dein Herz. Dein Du. Deine Wahrheit.

 

Ich glaube an mich und an meine Wahrheit. Glaub du auch an dich. Ich tue es. Du und ich, wir sind wertvoll, und zwar immer. Ganz egal was die anderen sagen. Du zählst.

 

Deine Lyn

 

 

 

Hast du auch ein Problem mit dem Essen?

Denkst du oft, dass du nur dünn sein musst, um anderen zu gefallen?

Glaubst du, du musst dünn sein, damit deine Freundinnen oder deine Freunde dich akzeptieren?

Hast du schon einmal eine Diät gemacht, weil du glaubst, dass du dich nur dann besser fühlst?

Schreib es mir doch gern in die Kommentare oder per E-Mail.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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